Wölfe mitten im Mai
Eigentlich wäre längst mal wieder Zeit für ein schönes oder ein lustiges Lied. Aber der kommende Song drängelt sich schon mit seiner Titelzeile auf den heutigen Samstag. Und ich muss sagen – leider – ist das Lied auch ansonsten dieser Tage gerade wieder aktuell.
Gesungen wird dieses Lied oder der Chanson von dem Liedermacher Franz-Josef Degenhardt (1931-2011). Degenhardt gilt als Vorreiter der westdeutschen Liedermacherszene der späten 60er und 70er Jahre.
„Wölfe mitten im Mai“ wie auch die noch wesentlich berühmteren Stücke „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ oder „Deutscher Sonntag“ von der selben Langspielplatte aus dem Jahr 1965. Ich verlinke die Lieder hinter dieser Andacht.
Degenhardt machte sich mit seinen kritischen Texten einen Namen in der Ostermarschbewegung wie in der erst später aufkommenden APO. Aber anders als bei den nach ihm kommenden Liedermachern Hannes Wader, Reinhard Mey oder Konstantin Wecker waren Degenhardts Lieder nie für die ganz großen Massen tauglich.
Zum Einen singt Degenhardt mit keiner wirklich schönen, sondern mit einer für meinen Geschmack fast unangenehmen, gepressten, schneidenden Stimme. Zum Anderen sind viele seiner Texte scharfzüngig, radikal, zum Teil kryptisch und hin und wieder auch boshaft bis hin zur Selbstgefälligkeit. Dieser Sänger war offensichtlich lieber ein Mahner und ein Prophet, denn ein Unterhaltungskünstler.
Bevor Degenhardt den Beruf des Sängers ergriff, promovierte er in dem Fach Jura. Er stand sogar am Beginn einer Universitätskarriere. Zunächst SPD-Mitglied provozierte er 1971 seinen Rauswurf aus der Partei und wurde 1978 DKP-Mitglied.
Er schrieb Romane und veröffentlichte bis zum Jahr 2008 insgesamt 31 Langspielplatten oder CDs. Vielleicht wegen seiner späteren politischen Radikalisierung oder weil in Vielem der politischen Gedankenwelt der späten 60er Jahre verhaftet blieb, sind die Anfangsjahre von Franz-Josef Degenhardt auch seine erfolgreichsten geblieben. In einem späteren Interview bezeichnete er das Album „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ wegen seines fortwährend guten Verkauf als seine „Rentenversicherung“.
Er lebte und starb am Ende übrigens in Quickborn, allerdings dem Quickborn bei Pinneberg. Noch eine Notiz am Rande: Franz-Josef Degenhardt hatte mehrere prominente Verwandte. Sein Cousin war zum Beispiel der Paderborner Kardinal Johannes Joachim Degenhardt.
Aber nun zu dem Lied „Wölfe mitten im Mai“. Ich hörte diesen Chanson zum ersten Mal in der 11. Klasse während der Projekttage am Hermannsburger Gymnasium. Unser Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer spielte uns das Stück als politisches Protestlied gegen den Nationalsozialismus vor. Mich hat dieses Stück sofort gepackt: Diese eindrückliche Stimme und das dramatische Gitarrenspiel. Vor allem faszinierte mich jedoch die gewaltige Kraft seiner Worte. Aber jetzt hört erst mal selbst:
Vordergründig erzählt Degenhardt von Wölfen, die ein Dorf bedrohen. Die Gefahr wird gleich am Anfang von August, dem Schäfer, entdeckt. Zumindest kennt er diese Gefahr und er weiß, was zu tun wäre. Noch könnte man der Lage einfach und ohne Probleme Herr werden. Doch niemand hört auf die Warnungen des Schäfers.
Dann fällt den Wölfen zuerst der Mahner, dann eine große Zahl weiterer Dörfler zum Opfer. Aber statt sich dieser Gefahr zu stellen oder sich ihr gar zu wehr zu setzen, übersehen, verdrängen oder beschönigen die Dorfbewohner die Bedrohung. Die Greise beschwören die alten Zeiten sogar lachend wieder herauf. Am Ende haben die Wölfe freie Hand und dringen in die Häuser ein. Jetzt ist nichts und niemand mehr sicher.
Als dann alles vorbei ist, will niemand mehr von den Ereignissen sprechen: Wessen Fett hat den Rauchfang verschmiert – also wer wurde von den Wölfen geholt? Wer stäubte die Pfoten weiß – wer hat den Wölfen geholfen? Selbst die Frage nach den Überlebenden, die Zeugnis ablegen könnten, ist unerwünscht.
Am Ende feiern die Dorfleute schon wieder, sogar zu den Liedern aus böser Zeit. Bis auf den Knecht, stört sich niemand daran. Und der ist irre geworden, weil er als einziger das Geschehene nicht verdrängen kann.
Folglich beginnt das Lied wieder am Anfang, wie alles begonnen hat: „August, der Schäfer, hat Wölfe gehört…“ Das Unheil beginnt von vorn.
Diese Geschichte von August, dem Schäfer, hat allerdings noch zwei weitere Ebenen.
Zuerst ist da die poetische-metaphorische Ebene: Degenhardts Sprache ist mystisch und märchen-, ja alptraumhaft. Die Wölfe, um die es hier geht, die ganze Szenerie, ist ins Fantastische verschoben.
Neben dem Schäfer trifft ein Dorfhexenkind auf und ein zweifelhafter Bauchladenmann. Unheilvolle Dinge gehen vor: Rosen riechen nach Aas, Feuer breitet sich aus, Eulen jagen am Tag, Karpfen kriechen ans Land, das Fleisch verdirbt unerklärlicher Weise. Es sind nicht einfach Wölfe unterwegs, es sind die bösen Wölfe aus dem Märchen. Die Ausgeburten einer aus den Fugen geratenen Welt. Das absolute, grauenvolle Unheil zeichnet sich mehr und mehr ab.
Um so unverständlicher ist es, dass die Dorfbewohner das ignorieren und ihr eigenes Unheil nicht kommen sehen.
Eine durch und durch unheimlicher werdende Atmosphäre. Eine düster-poetische Sprache.
Die dritte Ebene ist die politische Botschaft: Degenhardt singt dieses Lied 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Deutschland schaut nach vorne und Deutschland kümmert sich um den wirtschaftlichen Aufschwung. Über das, was vor 1945 geschehen ist, wird ein Mantel des Schweigens gehüllt.
Schon bald nach 1945 hat man aufgehört, die größeren und kleineren Täter aus der Nazizeit ausfindig zu machen, anzuklagen und zu bestrafen. Im Gegenteil: Viele ehemalige NSDAP-Mitglieder – und nicht nur die kleinen Lichter – hatten auch in der Bundesrepublik längst wieder Karriere gemacht. Sie sitzen in den Ämtern, den Universitäten, den Gerichten, sogar in den Parlamenten.
Alte Nazis scharen neue Nazis um sich. Aber weil die Bundesrepublik während des Kalten Krieges die Gefahr vor allem von links sieht, werden nationale oder rechtsradikale Tendenzen kaum angeprangert oder verfolgt.
Die alte Ideologie, der alte Mist kann zum Teil im neuen Gewand wieder frisch auf die Felder ausgebracht werden.
Eine Mauer des Schweigens und des Nicht-sehen-Wollens verhindert, dass die junge Bundesrepublik sich den düsteren Kapiteln der deutschen Geschichte stellt. So wie in dem Lied der Rauch des Feuers nicht gerochen wurde, so will man von den Krematorien und von den KZs nichts gewusst haben.
Doch wer von der Vergangenheit nichts wissen will, der kann aus ihr auch nichts lernen.
Degenhardt sieht die Feinde der Demokratie oder der Freiheit weitgehend unbeobachtet bereits wieder auf dem Vormarsch. So wie die Demokratie 1933 in Deutschland schon einmal von den Faschisten zerstört wurde, so sieht er, wie sich die Wölfe zu seiner Zeit erneut versammeln. Keiner sieht was, keiner unternimmt was.
Ob Degenhardt mit seiner Analyse der politischen Situation in den mittleren 1960er Jahren richtig lag, mag dahingestellt sein. Vielleicht hat er Gefahren gesehen, die nicht da waren. Vielleicht haben sein Bemühen und die bald aufkommende Studentenbewegung in der Richtung ja auch etwas Gutes bewirkt. Für die Botschaft und für die Bedeutung dieses Liedes ist es egal.
„Wölfe mitten im Mai“ ist eine mächtige Warnung, die auf jeden Fall in unserer heutigen Zeit wieder gehört werden sollte: Rechter Terrorismus und faschistisch oder rassistisch motivierte Morde sind nach Deutschland zurückgekommen. Antisemitische Übergriffe nehmen rasant zu. Es gibt Gegenden in unserem Land, in denen inzwischen rechtsextreme Parteien oder Gruppierungen den Ton angeben. Ein zweistelliger Prozentsatz der Bevölkerung hat sich der demokratischen Idee weitgehend entfremdet.
In diesen Corona-Tagen stäuben Rechtsradikale nun ihre Pfoten weiß. Offen rassistische Parolen werden gerade zurückgenommen. Statt dessen sucht man die Nähe zu Unzufriedenen, Wutbürgern und Anhängern von Verschwörungstheorien.
Plötzlich demonstrieren Gruppen gemeinsam, die sich vor wenigen Wochen noch voneinander fern gehalten hätten. Aus der Szene heraus werden Polizisten und Fernsehteams angegriffen, wirre Beschuldigungen ausgesprochen, Wissenschaft, Vernunft, Rationalität geschmäht.
Menschen mit ernstzunehmenden Anliegen stehen dabei neben Leuten, mit denen auf der Basis der Vernunft kaum noch zu sprechen ist. Dazu kommen rechte Strategen, die in diesem Windschatten klare politische Ziele verfolgen und Menschen manipulieren.
Wenn wir über „Wölfe“ reden, sind wir 2020 über die Zahl zwei inzwischen wohl weit hinaus. Was ist also zu tun?
Eine Demokratie muss wachsam sein und sich zu wehren wissen. Eine Gesellschaft muss auf der Basis von Vernunft und Toleranz miteinander reden, meinetwegen auch streiten können.
Ansonsten bricht sie durch das Treiben von Populisten, Demagogen, Verschwörungstheoretikern und politischer Rattenfänger irgendwann auseinander. Und dann kann es gefährlich werden für Minderheiten und für Andersdenkende.
Denn so verschwurbelt und hanebüchen manche Botschaften oder Forderungen auch klingen, oft hilft schon die Frage: „Was würde passieren, wenn man diese Leute machen ließe?“ Würden Sie an alle denken oder bestimmte Menschen ausgrenzen? Könnten nach deren Plänen alle ein gutes Leben führen oder nur sie selber? Kann ich diesen Leuten zutrauen, Verantwortung zu übernehmen oder reden die nur? Was würde bei denen am Ende rauskommen?
Im Neuen Testament stellt Jesus klar, wie man Verführer und ideologische Rattenfänger erkennen kann: „Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Matthäus 7,15-16).
Und dann müssen wir handeln. Wegschauen, schweigen, schönreden und ignorieren ist keine Option. Und das kann auch kein anderer für uns erledigen. Wir müssen an unserem Stamm- oder Kaffeetisch, im Büro und in der Werkstatt zuhören und geduldig und vernünftig Stellung beziehen. Dafür brauchen wir Vernunft, Argumente, Geduld und ein großes Herz. Keine Sense.
Das sechzigste kleine Licht.
Bleiben Sie gesund oder werden Sie gesund.
Ihr Pastor Jörg Prahler
Hier ist noch der Liedtext zum Nachlesen:
Wölfe mitten im Mai
1.: August der Schäfer hat Wölfe gehört,
Wölfe mitten im Mai, zwar nur zwei,
Aber August der schwört,
Sie hätten zusammen das Fraßlied geheult,
Das aus früherer Zeit, und er schreit.
Und sein Hut ist verbeult.
Schreit: “Rasch, holt die Sensen sonst ist es zu spät.
Schlagt sie tot, noch eher der Hahn dreimal kräht.”
Doch wer hört schon auf einen alten Hut
Und ist auf der Hut? Und ist auf der Hut?
2.: August der Schäfer ward niemehr geseh’n,
Nur sein alter Hut, voller Blut,
Schwamm im Bach. Circa zehn
Hat dann später das Dorfhexenkind
Nachts im Steinbruch entdeckt, blutbefleckt
Und die Schnauze im Wind.
Dem Kind hat die Mutter den Mund zugehext,
Hat geflüstert: “Bist still oder du verreckst!
Wer den bösen Wolf nicht vergißt, mein Kind,
Bleibt immer ein Kind. Bleibt immer ein Kind.”
3.: Schon schnappten die Hunde den Wind, und im Hag
Rochen Rosen nach Aas. Kein Schwein fraß.
Eulen jagten am Tag.
Hühner verscharrten die Eier im Sand.
Speck im Fang wurde weich. Aus dem Teich
Krochen Karpfen an Land.
Da haben die Greise zahnlos gelacht
Und gezischelt: “Wir haben’s ja gleich gesagt.
Düngt die Felder wieder mit dem alten Mist,
Sonst ist alles Mist. Sonst ist alles Mist
4.: Dann zu Johannis beim Feuertanzfest
– Keiner weiß heut’ mehr wie – waren sie
Plötzlich da. Aus Geäst
Sprangen sie in den Tanzkreis. Zu schnell
Bissen Bräute ins Gras, und zu blass
Schien der Mond. Aber hell,
Hell brannte Feuer aus trockenem Moos,
Brannte der Wald bis hinunter zum Fluss.
“Kinder, spielt, vom Rauch dort wissen wir nichts,
Und riechen auch nichts. Und riechen auch nichts.”
5.:”Jetzt kommen die Zeiten, da heißt es, heraus
Mit dem Gold aus dem Mund. Seid klug und
Wühlt euch Gräben ums Haus.
Gebt eure Töchter dem rohesten Knecht,
Jenem, der noch zur Not nicht nur Brot,
Mit den Zähnen aufbricht.”
So sprach der verschmuddelte Bauchladenmann
Und pries Amulette aus Wolfszähnen an.
“Wickelt Stroh und Stacheldraht um den Hals
Und haltet den Hals. Und haltet den Hals.”
6.: Was ist dann doch in den Häusern passiert?
Bisse in Balken und Bett. Welches Fett
Hat den Rauchfang verschmiert?
Wer gab den Wölfen die Kreide, das Mehl,
Stäubte die Pfoten weiß? Welcher Geiß
Glich dem Ziegengebell?
Und hat sich ein siebentes Geißlein versteckt?
Wurden Wackersteine im Brunnen entdeckt?
Viele Fragen, die nur einer hören will,
Der stören will. Der stören will.
7.: Doch jener Knecht mit dem Wildschweingebrech
– Heute ein Touristenziel – weiß, wie viel
Da geschah. Aber frech
Hockt er im Käfig, frisst Blutwurst und lacht
Wenn man ihn fragt. Und nur Schlag Null Uhr
Zur Johannisnacht,
Wenn von den Bergen das Feuerrad springt,
Die Touristenschar fröhlich das Fraßlied singt,
Beißt er wild ins Gitter, schreit: “Schluss mit dem Lied!
´S´t ein garstig Lied. ´S´t ein garstig Lied.”
8.: August der Schäfer hat Wölfe gehört,
Wölfe mitten im Mai, mehr als zwei.
Und der Schäfer, der schwört,
Sie hätten zusammen das Fraßlied geheult,
Das aus früherer Zeit, und er schreit.
Und sein Hut ist verbeult.
Schreit: “Rasch, holt die Sensen sonst ist es zu spät.
Schlagt sie tot, noch ehe der Hahn dreimal kräht.”
Doch wer hört schon auf einen alten Hut
Und ist auf der Hut? Und ist auf der Hut?
Und wie versprochen noch zwei weitere Chansons von Franz-Josef Degenhardt:
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern:
Deutscher Sonntag:
Das “kleine Licht” erscheint jeden Abend auf der Startseite von Evangelisch-im-Wendland.de und auf der Homepage der Kirchengemeinden Damnatz, Langendorf und Quickborn. Sie können diese Andacht, diesen Impuls oder Gedanken gut in ein Abendgebet einbauen. In Damnatz, Langendorf und Quickborn läuten dazu jeden Abend, außer am Wochenende von 19.15 bis 19.20 Uhr die Glocken. Für das Abendgebet können Sie eine Kerze anzünden. Die Kerze können Sie danach um 19.30 Uhr auf ein Fensterbrett in Richtung Straße stellen. Das ist ein Zeichen der Hoffnung, dass sich zur Zeit ganz viele Menschen in Lüchow-Dannenberg gegenseitig geben.
„Meine Oma hat aber gar kein Internet”? Aber du! Es ist ausdrücklich erlaubt, diese Beiträge auszudrucken, zu verschicken, zu teilen oder zu verlinken. Gebt sie gerne an alle weiter, die sich darüber freuen und vor allem an die, die sonst keine Zugang dazu hätten.
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Was meint ihr?
Lieber Jörg, manchmal fällt es mir ein und ich singe einen Halbsatz – August der Schäfer hat Wölfe gesehen und – Sonntags in der kleinen Stdt, wenn die Spinne Langeweile… ich kenne es noch von Anfang 70 – nicht schön, aber unvergesslich. … und es hat sich nicht wirklich verändert und breitet sich aus und macht mir Angst – trotz allem, so öffentlich vor Augen und Ohren …
Danke für das Kleine Licht. Ich hab’s gern gelesen. Liebe Grüße Susanne