Ein kleines Licht am 23. Juni

Kein Birnbaum mehr im Birnenweg

Montagnachmittag fahre ich von Hannover zurück nach Quickborn. Dabei kommt man quasi automatisch durch Celle. Eigentlich ist Celle verkehrstechnisch ein Alptraum. Entweder fährst du einen riesigen Umweg oder du quälst dich mit tausend anderen Autos mitten durch die Stadt.

Ich fahre in Celle meistens irgendwelche langen Umwege. Und ich fahre trotzdem immer mitten durch die Stadt. Denn ich bin in Celle geboren und die ersten Jahre aufgewachsen. Und dann habe ich kurz bevor ich nach Quickborn kam, noch mal ein Jahr in Celle gelebt. Deshalb gucke ich dort gerne nach, was sich verändert hat. Und was gleich geblieben ist.

Diesmal fahre ich die Umgehungsstraße bis ganz nach Süden von der Stadt. Ich komme also aus Richtung Braunschweig von der Blumlage in Richtung Zentrum. Die B214 heißt hier Blumlage. Hinter der Kirche biege ich rechts ab. Links sind lauter Wohnblocks, die ich noch nie gesehen habe. Rechts auf dem Damm ist ein Schotterweg für Radfahrer und Fußgänger. Eine Kastanienallee.

Diese Bäume wurden gepflanzt, als mein Großvater noch ein kleiner Junge war. Inzwischen bin ich ein Mann „in den besten Jahren“. Also alt, aber es geht noch. Ich habe auf dieser Allee das Fahrradfahren gelernt. Mit meinem bronzenen 18er Kinderrad. Kurz nach Weihnachten 1971. Meine Eltern sind mit mir den Weg entlang gegangen und ich bin mit dem Fahrrad voraus gefahren. Wenn ich das Gleichgewicht verlor, bin ich immer abgesprungen. Dann musste ich warten, bis meine Eltern zu mir aufgeschlossen hatten. Alleine anfahren konnte ich nämlich noch nicht. Jemand musste mich am Gepäckträger festhalten und mir Schwung geben. Dann ging es.

Irgendwann sagte mein Vater: „Das ist jetzt das letzte Mal, dass ich dich anschiebe.“ Ich fuhr los. Das letzten Mal Hilfe kriegen beim Losfahren. Dann immer alleine selber starten müssen. Ich fuhr und fuhr. Ein Spaziergänger kommt mir entgegen. Der Lenker wackelt. Bevor ich hinfalle, springe ich lieber ab. „Können Sie mich mal anschieben?“ „Aber gerne!“ Manchmal hast du Glück.

Ich fahre mein Auto auf einen Parkplatz am Rand der Straße. Ich will mir die Kastanienallee ansehen. Der Weg unter den grünen Kastanien führt zu einer Schrebergartensiedlung. Mein Opa und meine Oma hatten da eine Parzelle. Im Birkenweg, wo jeder Garten direkt am Sandweg einen Birnbaum hatte. Wenigstens früher mal. Schon zu Opas Zeiten waren viele Birnbäume umgehauen gewesen. Aber Opas Birnbaum stand noch und war der größte weit und breit. Daran könnte ich seinen Garten erkennen. Und an der Laube, die sie hatten. Erst orange gestrichen und dann später dunkelrot. Aber das war eine ganz einfache Laube gewesen. Und mein Großvater ist fast 30 Jahre tot.

Die Luft im Birkenweg ist schwer von Rosenduft. Ich kenne den Geruch von früher. Die Gärten sehen kleiner aus als früher. Alles dicht gepackt mit Kletterrosen, Buchsbaum, mit Erdbeeren, Porree und mit Bohnen. Es geht auf sieben zu. Die meisten Gärten sind schon verlassen. Birnbäume sehe ich keine mehr.

Nahe des Gartens meiner Großeltern ging vom Birkenweg ein Weg hin zum Vereinsheim ab. Da konnte man früher Eis kaufen. Ich erkenne aber weder das Gartentor, noch die alte Laube, noch sehe ich den Stumpf des alten Birnbaums. Ein freundlicher, älterer, kurdischer Herr mit Schauzbart kommt das zweite Mal mit dem Fahrrad an mir vorbei gefahren: „Na Chef! Suchst du wen?“ „Nein, mein Opa hatte hier früher mal einen Garten.“ Vielleicht hatte er sogar mal seinen Garten. Er hält vor einer Parzelle, die in die nähere Wahl kommen könnte. Aber sicher bin ich mir auch nicht.

Das macht doch alles keinen Sinn!“ Ich drehe um und gehe wieder zurück zum Auto.

Ich fahre am Saarfeld vorbei, dem Sportplatz vom MTV Eintracht Celle. Da habe ich mit meinem Vater zum ersten mal mit einem Lederball Fußball gespielt. Ich parke den Wagen noch mal hinter dem Haus von meinen Großeltern. Das hat sich am meisten verändert.

Ich gehe in die Innenstadt. Die Eisdiele Pellegrini gibt es nicht mehr. Sie heißt jetzt zumindest anders. Ich werde also nie erfahren, wie der Pellegrinibecher schmeckt, den mein Opa immer gegessen hat. Am Kino gab es eine Kneipe mit einem Discokeller. Da hab ich mal getanzt. Jetzt ist da eine Versicherung. Überall in Celle wird Pizza auf die Straße hinaus verkauft. Das ist so wie immer. Ich hole mir eine mit Salami und mit Peperoni. Das eine Haus gehörte mal meinem Patenonkel. Die Cocktailbar hat dicht gemacht.

Im Kreise vermisse ich besonders den türkischen Gemüseladen. Während meines Vikariats habe ich jeden zweiten Tag Schafskäse, Oliven und Fladenbrot und grüne Oliven eingekauft. Und Jahre später noch bin ich nie durch Celle gefahren, ohne ein, zwei pralle Tüten mit knoblauchduftenden Köstlichkeiten einzukaufen. Der hätte nicht aufhören dürfen. Als ich klein war, war in einem dieser Häuser noch ein Farbenladen. Da gab es Ölfarben, Pinsel und als Werbegeschenk Kartenspiele. Baumärkte kannte man noch gar nicht. Das mit dem Gemüseladen ist tragischer.

Jedes Mal wird mir Celle ein kleines bisschen fremder. Und ich werde fremder in Celle.

Ein bisschen tut das weh. Jedes Jahr, das du älter wirst. Jedes Jahr, in dem du mehr Vergangenheit anhäufst. Und andererseits ist es so, wie es ist.

Ich wohne im Wendland, ich habe meine Familie, ich habe neue Freunde gefunden. Das Leben ist einfach weitergegangen. Das ist der Lauf der Dinge und das ist doch auch gut so.

Auch wenn ich manchmal auch sentimental werde. Wenn ich manchmal mit einem Fuß in der Vergangenheit lebe. Die „besten Jahre“ sind übrigens auch nicht die besten Jahre. Das soll einen nur trösten. Und es heißt ja auch nicht, dass es mit fünf Jahren besser gewesen ist. Ich konnte da noch nicht mal allein mit dem Fahrrad anfahren. Oder mit fünfundzwanzig – wobei: nichts geht übers Studieren in Göttingen. Kann ja auch sein, dass die besten Jahre mit 75 anfangen. Ich kenne Leute, die machen einen sehr zufriedenen Eindruck in dem Alter.

Ich setze mich wieder ins Auto und fahre weiter Richtung Quickborn. Denn in Celle möchte ich heutzutage nicht tot über‘m Zaun hängen. Eine Stadt, in der coole Kneipen mit Tanzfläche im Keller in Versicherungsbüros umgewandelt werden.

Ich bin unterwegs. Alles verändert sich. Nichts kannst du fest halten. Ich habe ein schönes Zuhause und ein gutes Leben. Und trotzdem sind wir letztlich alle Reisende.

Alles, was lebt, verändert sich. Und wisst ihr was? Die besten Jahre sind und waren nicht. Sie kommen erst noch.

Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Hebräer 13,14.

Das achtundneunzigste kleine Licht.

Bleiben Sie gesund oder werden Sie gesund.

Ihr Pastor Jörg Prahler

Das “kleine Licht” erscheint jeden Abend auf der Startseite von Evangelisch-im-Wendland.de und auf der Homepage der Kirchengemeinden Damnatz, Langendorf und Quickborn. Sie können diese Andacht, diesen Impuls oder Gedanken gut in ein Abendgebet einbauen. In Damnatz, Langendorf und Quickborn läuten dazu jeden Abend, außer am Wochenende von 19.15 bis 19.20 Uhr die Glocken. Für das Abendgebet können Sie eine Kerze anzünden. Die Kerze können Sie danach um 19.30 Uhr auf ein Fensterbrett in Richtung Straße stellen. Das ist ein Zeichen der Hoffnung, dass sich zur Zeit ganz viele Menschen in Lüchow-Dannenberg gegenseitig geben.

Meine Oma hat aber gar kein Internet”? Aber du! Es ist ausdrücklich erlaubt, diese Beiträge auszudrucken, zu verschicken, zu teilen oder zu verlinken. Gebt sie gerne an alle weiter, die sich darüber freuen und vor allem an die, die sonst keine Zugang dazu hätten.

Rückmeldungen, Fragen oder Anregungen gerne an joergprahler@gmx.de.